Jimmy, Jimmy by Mark O'Sullivan

Jimmy, Jimmy by Mark O'Sullivan

Autor:Mark O'Sullivan [O'Sullivan, Mark]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 3423650036
Herausgeber: DTV Deutscher Taschenbuch
veröffentlicht: 2013-08-31T22:00:00+00:00


21

Ich habe den ganzen Abend in meinem Zimmer verbracht, sieht man von den fünf Minuten ab, die ich fürs Essen gebraucht habe. Ich warte darauf, dass Mam mit mir schimpfen kommt, damit ich mit ihr Streit anfangen kann. Sie musste ganz allein das Abendessen zubereiten, Tom ins Bett bringen und Dad für die Nacht vorbereiten. Ich habe behauptet, ich müsse lernen, weil ich in der Schule ziemlich im Rückstand sei. Was den Rückstand betrifft, stimmt das sogar. Trotzdem habe ich kein einziges Buch aufgeschlagen. Ich wollte Musik hören, aber sogar das war mir zu viel. Vier Stunden sind vergangen, seit sie nach Hause gekommen ist, und ich bin kurz davor zu explodieren.

Es ist nicht einfach, die Zimmertür zu öffnen, ohne dass es knarrt, aber es gelingt mir. Von unten kein Laut. Das Haus ist still, aber es herrscht keine Ruhe. Jedenfalls nicht in meinem Kopf. Ich bewege mich leise in Richtung Treppe. Unter Seans Tür ist kein Licht zu sehen, was wohl bedeutet, dass er hinter Clem her ist und pfeilgerade auf eine Kraftprobe mit den Healys zusteuert. Die Tür zu Mams Zimmer ist nur angelehnt, drinnen schläft, den grünen Traktor fest im Arm, Tom. Seltsam, in welchen Dingen Kinder Trost finden. Und wie schade, dass es nicht so bleibt.

Ich finde Mam im Wohnzimmer. Es ist erstickend heiß, obwohl wir schon eine Weile kein Kaminfeuer mehr anmachen. Kamine ohne tanzende Flammen haben etwas Blutleeres, Blasses. Der Fernseher ist nicht eingeschaltet, sie hört Musik. Wie sie weit nach hinten gelehnt auf dem Sofa lagert, könnte sie für ein Fotoshooting posieren. Sie hat die Augen halb geschlossen, ihr Pony hängt wie ein Schleier davor, und das hochgerutschte Kleid gibt ihre Oberschenkel frei. Am liebsten würde ich ihr das Glas Rotwein aus der Hand reißen und sie fragen, wie sie andächtig Musik hören kann, als wäre nichts passiert.

Es ist Chormusik von Arvo Pärt, ihrem Lieblingskomponisten. »The Woman with the Alabaster Box«. Ich kenne das Stück, weil ich es früher so oft gehört habe. Seit dem Unfall allerdings nicht mehr. Es ist ein paar Jahre her, dass sie und Dad wegen eines Arvo-Pärt-Konzerts extra nach Dublin gefahren sind, und als sie nach Hause kamen, war sie hin und weg, weil vollkommen überraschend der Komponist persönlich dort aufgetaucht war. »Sie hat sich in einen bärtigen russischen Mönch verliebt!«, hat Dad sie aufgezogen.

»In einen estnischen«, hat sie ihn korrigiert. »Und unglücklicherweise ist er verheiratet und hat Kinder.«

Ich war damals zehn oder elf, und ich erinnere mich, dass ich den Witz kein bisschen komisch fand. Was für ein Kind war ich damals eigentlich? Und wer bin ich heute?

»Eala«, sagt sie, ohne die Augen zu öffnen. »Soll ich dir was sagen: Die Musik macht mir Lust, wieder in den Chor zu gehen. Vielleicht tu ich’s auch schon bald.«

Ich antworte nicht. Sie will Kirchenlieder singen, während unser Leben in Scherben fällt.

»Hast du viel geschafft?«, fragt sie.

»Nein«, sage ich. »Und willst du wissen, warum nicht?«

Sie bewegt langsam den Kopf in meine Richtung.

»Weil ich gesehen hab, wie diese Frau mit Dad tanzt.



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